Die junge Frau, die mir in der S-Bahn gegenüber sitzt, ist mit allem ausgestattet und verziert. Die große Uhr an ihrem Handgelenk wirkt eher störend als nützlich. Das riesengroße Handy und ein nagelneues Tablet nehmen auf ihrem Schoß alle Fläche ein, während neben ihr die Tasche von einem gewissen Michael mit einer Einkaufstüte XXL mithalten kann.
In mir erwacht die Frage, wofür eine so große Tasche im Alltag gedacht ist.
Ich denke da zuerst an einen Wochenend-Trip. Ah, jetzt kommt ein Beautycase zum Vorschein und ein Spiegel. Mit geübtem Griff zaubert die junge Frau einen Mascara für extrem lange Wimpern und Mega Volumen aus dem kleinen Köfferchen. Jetzt zügig eine Sprachnachricht senden und dann weiter tuschen. Eine Nachricht geht ein. Das Signal unterbricht nun ein weiteres Mal ihre hochkonzentrierte Arbeit in ihrem Gesicht. Die Schminkutensilien fallen zur Hälfte auf den Sitz und Boden der Bahn. Ich sehe 4 x Nagellack, Nagellackentferner, Wimpern, eyemake-up -remover pads, Handcreme, Fingernägel, Feuchttücher, Abschminktücher, Lipgloss, Lidschatten, Parfum, BB Creme, CC Creme … Concealer, Rouge und ein „Flügel verleihendes“ Dosengetränk und Kaugummis.
Wie eine Beauty-Zeitschrift angereichert mit Werbeanzeigen, so wirkt das Equipment dieser jungen Frau.
Ihre Hosen sind an Oberschenkel und Knie völlig aufgerissen und zerfetzt. Und bei 6°C unter Null werden auch die Sneakersöckchen nicht viel Wärme halten können. Die Schuhe sollen edel wirken: Ein rundes goldenes Häkchen ist drauf genäht. Ob die Göttin des Sieges weiß, dass sie für einen Plastikschuh nicht mehr wegzudenken ist? Die Jacke wie bei allen anderen Fahrgästen, ganz gleich ob Mann, ob Frau, ist so eine typische Daunensteppjacke. Alles in allem sehr uniform, sehr einheitlich.
Früher gab es Litfaßsäulen, erinnere ich mich.
An diesen Säulen wurden regelmäßig große Werbeplakate geklebt. Heute laufen lebendige Litfaßsäulen mit überteuerten Produkten großer Marken kostenlos Werbung für diese Konzerne. Grenzenloser Konsum, der alle Konsumenten glücklicher werden lassen soll. Jedoch wirkt diese junge Frau eher gegängelt und bestimmt durch Trendvorgaben, um cool zu sein. Dabei sind die Unternehmen der großen Labels meist uncool. Moderne Sklaven nähen Materialien zusammen, die entweder gleich als Sondermüll zu bezeichnen sind oder unter katastrophalen Bedingungen angebaut bzw. hergestellt werden.
Wer sich wirklich etwas Wertvolles gönnen möchte
… der kann sich für diese Summen auch eine Garderobe anfertigen lassen oder bei den Designerinnen vor Ort ein Kleidungsstück kaufen. Das ist viel zufrieden stellender und mit doppeltem Glück verbunden, denn: Du hast dich eingekleidet, so wie es dir wirklich gefällt und die Frau, welche deine Kleidung hergestellt hat, kann davon leben – auch mit ihrem Kind. Ja, es kann sogar repariert werden. Vielleicht landen auf diese Art und Weise nur noch wertgeschätzte Kleidungsstücke in deinem Kleiderschrank.
Ich helfe ihr beim Einsammeln ihrer Ausstattung. Sie bedankt sich und sagt: Sie haben es gut, mit so einer kleinen Handtasche! Da kommt man gar nicht erst auf die Idee, sein ganzes Leben mit sich rum zu schleppen!
Als ich auf dem Bahnhof den nächsten Zug erwarte, sehe ich mein Spiegelbild in der Tür.
Es ist tatsächlich nicht zu erkennen, wo oder von wem ich was einkaufe.
Kein einziger Hinweis. Kein Schildchen, kein Label. Nichts. Ach doch … in meiner Unterwäsche und in meiner Kopfbedeckung: Amaryllis-Lingerie und Kirsten Piechotka. Da wären noch die kleinen Schildchen innen in meiner Oberbekleidung. Ich gehe sie im Kopf durch: hessnatur, Bogner (über 25 Jahre alt!), Kunert, das cape mädchen. Ich bin auch nicht ganz frei von den Hinweisen. Doch es sind meist kleine Handwerkstätten und Ateliers mit großer Kompetenz!